Kolumba
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Stefan Kraus
Plädoyer für ein lebendes Museum

Vortrag gehalten auf dem vom Musée du Louvre im März 2000 in Paris veranstalteten Kolloquium »Die Zukunft der Museen«

»Die Leute gehen ja nur in das Museum, weil ihnen gesagt worden ist, daß es ein Kulturmensch aufzusuchen hat...«
(Thomas Bernhard, »Alte Meister«, 1985)

»Schon die Vorstellung, Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, ob es sich nun um Museen oder alte Gebäude handelt, ist mir ein Greuel.«
(Vladimir Nabokov, »Der Museumsbesuch«, 1939)

In seiner Erzählung »Der Museumsbesuch« entwirft Vladimir Nabokov (1899-1977) eine abgedrehte Geschichte. Der Ich-Erzähler reist von Paris in ein französisches Provinznest. Im Gepäck trägt er die ihm eher lästige Bitte eines Freundes, im dortigen Museum den Verbleib eines Gemäldes zu erkunden. Eher aus Verlegenheit – um einem herannnahenden Regenguß auszuweichen – findet er sich schließlich auf dessen Eingangsstufen wieder und unmittelbar alle seine Vorurteile gegenüber den Museen bestätigt: »Alles war wie es sein soll: graue Farbtöne, der Schlaf der Substanz, dematerialisierte Materie. Die übliche Vitrine mit alten abgegriffenen Münzen, die im schrägen Samt ihrer Fächer ruhten.« Zwar möchte ich Ihnen das eigene Lesen nicht vorwegnehmen, muß aber – um mein Thema entwickeln zu können – immerhin soviel verraten, das die köstliche Erzählung einen unerwarteten Verlauf nimmt. Zunächst bestätigen sich im Gewohnten die Erwartungen des Erzählers, der selbst den obligaten Museumswärter – »wie üblich ein Veteran mit leerem Ärmel« – als Prototyp der verstaubten Institution wiedererkennen möchte. Doch stufenweise öffnet das scheinbar harmlose Haus seine unermesslichen Resourcen, verwandelt sich der erwartete, vertraute Raum in einen surrealen, unvorstellbaren. Der diese Veränderungen an sich wahrnehmende Erzähler verirrt sich in immer neuen Raumfluchten und ihren sich verschiebenden Realitätsebenen. »Hunde liefen hier über Azurteppiche, und auf einem Tigerfell lagen Bogen und Köcher«, »der schräge Glanz großer Gemälde, die voll waren von Sturmwolken zwischen denen die zarten Idole frommer Kunst in blauen und rosaroten Gewändern schwebten«, oder »kaum drei Zentimeter entfernt, die hohen Räder einer schwitzenden Lokomotive«. Froh, »dem Labyrinth des Museums entronnen zu sein«, findet sich der Autor schließlich an einem zugefrorenen Kanal in seiner russischen Heimat wieder und erwähnt am Ende der Geschichte, daß es ihn »unendliche Geduld und Anstrengung« gekostet habe, wieder ins Ausland - wohl zurück nach Paris - zu gelangen.
Die Erzählung dient mir in mehrfacher Weise als Bild, wobei mir die beschriebene Diskrepanz zwischen dem vom Museum Erwarteten und dem Unerwarteten bemerkenswert erscheint. Als Nabokov im Jahre 1939 seine Geschichte schrieb umgab die Institution Museum eine Friedhofsruhe, die zu stören unerwünscht war. Hugo Borger, der ehemalige Generaldirektor der Kölner Museen, erinnerte sich bei den Anfängen seiner Tätigkeit in den fünfziger Jahren noch daran, daß man froh sein konnte, wenn einmal am Tag die Eingangsglocke läutete (Anm.2). Für ihn und eine ganze Generation von Kunsthistorikern wurde Öffentlichkeit zu schaffen zum vorrangigen Ziel. Das Römisch-Germanische Museum in Köln und das Centre Georges Pompidou seien hier stellvertretend für diese Errungenschaften der siebziger Jahre genannt. Als deren Ergebnis gibt es soviele Museumsbesucher wie nie zuvor. »Es werden immer mehr« titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zuletzt am 17. Dezember des vergangenen Jahres. Spitzenreiter für den Besucherzuwachs waren demnach »mit Abstand die Kunstmuseen« (Anm.3). Von ihnen soll die Rede sein.

Die zeitgemäße Verpackung...
Worüber will man sich beklagen, wenn doch die quantitativen Erfolgskriterien greifen? Die Museen müssen Ereignisse produzieren, um von den Medien wahrgenommen zu werden, um ihre Oeffentlichkeit zu erreichen und um Besucherzahlen nachweisen zu können. Dieser Notwendigkeit gehorchend, haben sie sich eine zeitgemäße Verpackung zugelegt: Museumsarchitekturen mit großen Eingangshallen und spielerischen Fassaden, in denen sich der gestiegene gesellschaftliche Rang der Institution und der Eventcharakter der Ausstellungskonzepte wiederspiegelt und ein mit großem Aufwand betriebenes Marketing, vom Logo bis zum Internet, eine Flut von Prospekten, Plakaten und Anzeigen, die inflationär mit Begriffen wie »Gold« und »Schatz« operieren und ohnehin nur »Meisterwerke« kennen. Doch da sich nicht ständig Superlative produzieren lassen, vor allem, wenn man nicht in der Ersten Liga spielt, muß die Verpackung diesen Mangel ausgleichen. In der zeitgenössischen Kunst dient sie überdies zur Durchsetzung von Marktpositionen, wenn z. B. für die Einzelausstellung eines zeitgenössischen Fotografen vom Deutschen Guggenheim Berlin wiederholt ganze Seiten in überregionalen Zeitungen geschaltet werden (Anm.4). Die Ausstellung wird gesponsert von der Deutschen Bank.
Der »glitzernde Schein« ist trügerisch schrieb Willibald Sauerländer, der ehemalige Direktor des Zentralinstitutes für Kunstgeschichte in München, kürzlich: »Der spektakuläre Erfolg der Spitzenreiter vom Louvre bis zum Getty verdeckt und enthüllt eine Krise. Unter dem unersättlichen Wunsch nach Entertainment und Novitäten läuft das traditionelle Museum Gefahr tödlicher Veränderung« (Anm.5).

..aber konventionelle Absicht
Die Existenz von Museen begründet sich im wesentlichen in drei Aufgaben: sammeln, erforschen und vermitteln. Sammeln und erforschen finden im Hintergrund statt und besitzen aus den kurz erwähnten Gründen abgesehen von wenigen spektakulären Ankäufen kaum mediale Attraktivität. In der Kunstvermittlung konzentriert man sich in der Besucherbetreuung auf die Museumspädagogik, für die es entsprechend ihrer Zielgruppen die verschiedensten Modelle gibt. Demgegenüber folgt die Präsentation der Werke meist einheitlich dem gängigen Schema der chronologischen Abfolge was zu einer langweiligen Austauschbarkeit der Sammlungskonzepte geführt hat. Kunstgeschichte wird – mit welchem Bestand auch immer – mehr oder weniger gut bebildert. In der zeitgenössischen Kunst führt die zunehmende Abhängigkeit der Museen von einflußreichen Sammlern und kooperierenden Galeristen zu einer vergleichbaren Konformität der ausgestellten Künstler, die den Tendenzen des internationalen Marktes entsprechend positioniert werden.
Das Museum vermittelt im einen, wie im anderen Fall Ordnungsprinzipien, die sich als kunsthistorische Erkenntnis verfestigt haben oder dabei sind, es zu tun. Das Einzelwerk wird in einen vorgedachten Zusammenhang eingebunden, den es mit Objektbeschriftungen, auf ausführlichen Schrifttafeln und unterstüzt mit immer neuen technischen Hilfsmitteln - vom Diakasten der 70er, zum interaktiven Flachbildschirm der 90er Jahre - zu vermitteln gilt. Das Museum erklärt die Kunst und möchte belehren, überzeugt vom rationalen Anspruch einer sprachlichen Ausdeutung seiner Werke und einer den Naturwissenschaften entliehenen Nachprüfbarkeit seiner Ergebnisse. So legt der ICOM-Kodex unserer Berufsethik fest, »daß die bei Dauer- und Sonderausstellungen vermittelten Informationen ehrlich und objektiv sind, den Tatsachen entsprechen und daß weder Mythen noch Stereotype verstetigt werden.«
Aus diesen unterschiedlichen Vorgaben ergibt sich für viele Museen ein fatales Mißverhältnis. Auf der einen Seite die Konzentration auf attraktive Wechselausstellungen, die, indem sie lange Planungszeiten voraussetzen, kurzfristige Veränderungen und damit Aktualität ausschließen, auf der anderen Seite eine in schematischer Ordnung auf Dauer erstarrte Schausammlung, deren Präsentationsästhetik mangels personeller und finanzieller Mittel oft um Jahrzehnte zurückbleibt. Schon in den Zwanziger Jahren erkannte man, daß die Leblosigkeit der einmal gefundenen Ordnung die Existenz des Museums grundsätzlich in Frage stellen wird. Walter Riezler, Museumsdirektor und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, sah bereits 1932 darin die »Schicksalsfrage« des Museums überhaupt: »Nur wenn es gelingt, den Verlust an lebendiger ‚Wirklichkeit' (das Wort in seinem stärksten und ursprünglichsten Sinne genommen), den jedes Kunstwerk erleidet, wenn es aus seinem natürlichen Zusammenhange in das Museum überführt wird, durch eine neue ‚Wirklichkeit' wettzumachen, ist das Museum etwas anderes als eine ‚Leichenkammer der Kunst'... Die große Sorgfalt und Feinfühligkeit, die erforderlich ist, einen Museumsraum wirklich mustergültig anzuordnen, so daß jedes einzelne Stück zur lebendigsten Wirkung gebracht wird... darf nun aber nicht dazu verführen, daß die einmal gelungene Ordnung für Jahre als unantastbar angesehen wird.... Man könnte sich als – so wohl nie zu verwirklichenden – Idealfall denken, daß im Laufe der Jahre die ganzen Bestände eines Museums... nach immer neuen Gesichtspunkten in wechselnder Anordnung ausgestellt werden« (Anm.6).
Auch in der Wiederaufbauphase der Museen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden derartige Konzepte weiterverfolgt. So findet man in den gerade publizierten Texten des Schriftstellers und Künstlerfreundes Albrecht Fabri den »Entwurf eines möglichen neuen Museums« aus dem Jahre 1953: »Können Sie sich ein Museum vorstellen«, fragt Fabri, »dessen Inventar in dauernder Bewegung ist« (...). Fabri stellte den Sinn einer chronologischen Ausstellung in Frage und verlangte nach einer völlig neuen Präsentationkultur: »Jedes Werk setzt vielmehr neu an; und das Frühe ist in seiner Arbeit nicht weniger vollständig als das Späte. Darin steckt aber, daß es so etwas wie eine Geschichte der Kunst garnicht gibt, zumindest nicht im Sinne eines einfachen Ablaufs. (...) Indem es (das Museum) chronologisch, nach Jahreszahlen ordnete, entwarf es ein lineares, und das heißt notwendigerweise: flaches Bild von Geschichte. Es stellte die Vergangenheit nur als vergangen, nicht als fortwirkend dar. Es unterschlug vor allem die Simultanität, die zwischen Werken der verschiedensten Jahrhunderte regiert. (...) Im Sinn seiner ästhetischen Aktualität ist auch ein Werk des vierten vorchristlichen Jahrhunderts von heute; und im Sinn eben dieser Aktualität muß ein Museum, wenn es nicht zur Rumpelkammer werden soll, das betreffende Werk vorstellen« (Anm.7).

Die Zukunft der Museen...
Die Zukunft der Museen ist abhängig von der gesellschaftlichen Anerkennung von Kunst. Doch weder die retrospektive Ausrichtung der meisten Museen, die seit den siebziger Jahren nur zugenommen hat, noch die populistische Anbiederung an erfolgreichere Modelle des Enter- und Infotainment sind dazu geeignet künstlerisches Tun als Experiment und als grenzüberschreitendes Wagnis zu vermitteln. Es stellt sich die Frage, warum die unvergleichlich gestiegene Zahl der Museumsbesuche nicht zu größerer Akzeptanz und Toleranz gegenüber dem zeitgenössischen Kunstschaffen geführt hat, warum wir Kunstvermittler im Gegenteil bei Führungen und Gesprächen noch immer den gleichen Vorurteilen begegnen, wie zu Beginn der Moderne (»Das kann mein Kind auch!«). Der Bildungsauftrag des Museums erfüllt sich nur, wenn Kunst nicht retrospektiv als gesicherter Wert innerhalb etablierter Ordnungen vermittelt wird, sondern als eine jede Ordnung sprengende Kraft, als – Schiller sei Dank – einzige Erscheinung von Freiheit. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Kunst dient dem Verständnis der Gegenwart.
Kunstvermittlung könnte sich die zunehmende Bedeutung der visuellen Wahrnehmung zu eigen machen indem sie die individuelle Erfahrung des Werkes als dessen Sinn und eigentliche Bedeutung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. Sie muß die Qualität des »sensiblen bildenden Sehens« (Sauerländer) bewußt machen und in der Auseinandersetzung mit Originalen so selbstverständlich wie unmittelbar sein.
Die Zukunft der Museen liegt nicht in deren Größe, denn was nutzen alle Neu- und Erweiterungsbauten, wenn Geld, Personal und Ideen fehlen, sie attraktiv zu bespielen. Museen sollten statt immer größer, immer besser werden wollen. Dies erfordert neben der Existenzsicherung der Künstler durch die Bereitstellung finanzierbarer Produktionsbedingungen, die Vision, die Selbstständigkeit und auch die Unabhängigkeit der Kuratoren. Die Zukunft der Museen liegt in ihrer »Gegenwart«, in der authentischen Auseinandersetzung mit der materiellen Präsenz von Kunstwerken (Anm.8). Sie zu nutzen erfordert individuelle Konzepte und die ausdrückliche Betonung jeweils individueller Sammlungstrukturen. Anknüpfend an die Erzählung von Vladimir Nabokov, liegt die Zukunft der Museen gerade auch in ihrer gescholtenen Provinzialität, in der Eigen- und Einzigartigkeit der Sammlungen und im unerwarteten Aufeinandertreffen unterschiedlicher ästhetischer Kategorien. Nabokov schildert das traumatische Erlebnis in einem Museum als Wunderkammer. Sein Besucher verläßt das Museum verwandelt. Doch wo ist bei allem Willen zur aufklärenden Bildung in unseren Museen das Wundern geblieben? Wo wird der Neugierde Rechnung getragen, dem nicht zu vermittelnden Rest, der das Wesentliche der Kunst ausmacht, der Lust am eigenen Entdecken und vor allem der Fähigkeit zur visuellen Erkenntnis?
Die Zukunft der Museen erfordert statt statischer Ordnung das »lebende« Museum (Anm.9). Das lebende Museum bezieht seine Legitimation als idealer Ort für die Auseinandersetzung mit Kunst aus einer permanenten Infragestellung seiner Gegenstände (den Werken) und seiner Verfahrensweisen (deren Erforschung und Präsentation). Kunstvermittlung bedeuted darin das Aktivieren der bewahrten Werke und ihrer Gehalte innerhalb eines sich stets erneuernden zeitgenössischen Kontextes, der allein durch die wechselnde Präsentation der Werke untereinander hergestellt wird. Sie muß eine von den Werken ausgehende und daher unverwechselbare Qualität erlangen. Das lebende Museum wird das Phanömen Kunst als einen Prozess begreifbar machen, für den nicht Fortschritt sondern Kontinuität maßgeblich ist, es wird den Ereignischarakter der spektakulären Wechselausstellung einlösen gegen das Angebot zur kontinuierlichen Teilnahme.
Es wird nicht retrospektiv ausgerichtet sein, sondern das künstlerische Experiment aktiv begleiten und von Zeit zu Zeit auch ermöglichen. Das lebende Museum ist als präzise zu bespielendes Instrument ein kleines Haus mit einer qualitätvollen größeren Sammlung, die – wie in einem Garten - immer nur ausschnittweise erblüht. Seine Sammlung ist das wertvolle Material eines ästhetischen Labors in dem Zusammenhänge erforscht werden, die jenseits der Chronologie eher im Anthropologischen anzunehmen sind. Zusammenhänge, die intuitiv erfahren werden und deren assoziative Qualität das kunsthistorische Wissen um diese Werke bereichert. Das lebende Museum versteht sich deshalb nicht als Ergebnis der Kunstwissenschaft, vielmehr möchte es Vergangenheit als (wieder) erlebte Gegenwart bereithalten und seine Erfahrungen im Umgang mit Originalen befruchtend in die kunstwissenschaftliche Diskussion einbringen. Stichworte dieser Diskussion sind u.a. Intuition, Subjektivität, Leidenschaft und Erinnerung, die als eigene Kriterien diskutiert werden müssen.

...und die der Individualität
Ich träume von einem Museum, das einen nicht mit einem Shop empfängt, nicht mit Stifterlisten und auch nicht mit belehrenden Schrifttafeln über Sinn und Zweck, sondern unmittelbar mit Kunstwerken, über die ich mich wundern darf. Ich träume von einem Museum, dessen bauliche Atmosphäre die Bereitschaft fördert, sich länger darin aufzuhalten und neugierig auf Unbekanntes einzulassen; von einem Museum, das allein mit der Art der Präsentation seiner Werke etwas von der Hingabe, Überlegung und Ausdauer vermittelt, mit der Kunst entsteht, auch von der Isolation des Künstlers, die am besten in der Isolation des Betrachtens erfahren werden kann und nicht in geführten Rundgängen, die Fragen beantworten, bevor sie gestellt werden. Ich träume von einem Museum das nicht nur Meisterwerke kennt, sondern auch die Wege und Umwege, die dorthin führen; von einem Museum, das sich redlich bemüht, die Bedeutung von Kunst nicht einengend oder vereinfachend darzustellen, vielmehr ihre Ambivalenz, ihre Mehrdeutigkeit bewußt machen möchte; von einem Museum das die sinnstiftende Autonomie der Kunst erhält, indem es Kunst nur mit Kunst erklärt und mit ihr an Grundfragen der menschlichen Existenz heranführt.
Ich träume von einem Museum, daß nicht in regional und international, in bekannte und unbekannte Künstler unterscheidet, sondern allein die Intensität zum Maßstab seiner Ausstellungen macht; von einem Museum, daß Literatur und Musik nicht als Garnitur zur Eröffnung betrachtet, sondern darin mögliche Parallelen erlebbar macht. Ich träume von einem Museum, das – wie in Nabokovs Erzählung – die historische Zeit aufhebt und den Besucher eintauchen läßt in die Gegenwart seiner Erinnerungen, etwa die seiner Kindheit, deren Recherche Kunst häufig zum Ausgangspunkt hat. Ich träume von einem Museum, daß seinen Besucher nicht mit Kopfhörer-Führungen entmündigt, sondern in vorbehaltloser Gesprächsbereitsschaft vor allem nach seinen Eindrücken fragt, ihn eigene Fragen entwickeln läßt und eigene Erfahrungen mit auf den Weg gibt; von einem Museum, dessen Ausstellungen nicht das vorgedachte Konzept vermitteln wollen, sondern Zwischenräume öffnen, für die hinzukommenden Ideen der Besucher. Dieses Museum wäre – um einen Beuys'schen Terminus einzuflechten – eine »Soziale Plastik«, in der jeder Besucher seine ihm eigene Kreativität als Fähigkeit zur Wahrnehmung, zur Kommunikation und zur Übernahme von Verantwortung erleben würde. Es stellt die Frage nach der Freiheit des Individuums im Schnittpunkt von Glaube und Wissen und tritt für existenzielle Grundwerte ein, indem es sie infrage stellt.

Kolumba
Meine Damen und Herren - Der Traum nährt sich bekanntermaßen aus der Realität, deren Alltag auch in Köln alle in diesem Kolloquium behandelten Konflikte, Beschränkungen und Widersprüche unserer Institution bereithält. Doch das Museum von dem wir träumen, ist seiner Realisierung in den vergangenen zehn Jahren schrittweise näher gekommen. Es trägt den Namen »Kolumba« und entsteht als Fortführung des schon 1853 gegründeten Kölner Diözesanmuseums in der finanziellen und vor allem auch ideellen Trägerschaft des Erzbistums Köln. Unser Träger identifiziert sich mit einer Arbeit, die an die verloren gegangene kulturtragende Traditon der Kirche anknüpfen möchte. Einzigartiger Bauplatz ist das Ruinengelände von St. Kolumba, einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten spätgotischen Kirche in der Kölner Innenstadt, deren Reste es vollständig integriert. Seit 1991 haben wir das Konzept für dieses Museum entwickelt und in wechselnden Konstellationen vielfältigst erprobt. Ich habe ihnen kommentarlos einige Bildbeispiele unserer bisherigen Ausstellungs-Situationen vorgestellt, die sich aufgrund ihrer Gegenüberstellungen, bzw. raumgreifenden Bezüge nur schwer abbilden lassen. Hervorheben möchte ich, dass alle diese Ausstellungen aus Werken der eigenen Sammlung zusammengestellt werden. Es ist also immer ein anderes Museum, das der Besucher vorfindet, wobei er sich darauf verlassen kann, einige wenige Werke stets an ihrem Ort zu sehen.
Als Richard Serra am 24. Februar 1997 seine Stahlskulptur »The Drowned and the Saved« in der ehemaligen Sakristei der Kolumbakirche aufstellte, war dies die idelle Grundsteinlegung für das zukünftige Haus, denn diese Situation wird unverändert im Neubau erhalten bleiben: Unter freiem Himmel befindet man sich in der Innenstadt von Köln in einem gotischen Raum, den eine gleichgroße Gruft unterkellert, die angehäuft ist mit den zusammengetragenen Gebeinen aus Bestattungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Die beiden sich gegenseitig stützenden Stahlwinkel der Skulptur verklammern den ehemals zweijochigen Raum und überführen in künstlerischer Interpretation das ruinöse Fragment zu neuer Ganzheit.
»Kolumba« ist der vom Schweizer Architekten Peter Zumthor entworfene Neubau, der im Juni 1997 aus einem Architekturwettberb als erster Preisträger hervorging. Mit ihm befinden wir uns nach gemeinsamem Diskurs am Ende der Raumplanung und kurz vor Beginn der Bauarbeiten, die etwa 2003 abgeschlossen sein sollen. Kolumba wird als geschichtlicher Ort eine Verdichtung dieses Konzeptes erbringen, und den Werken unserer Sammlung Heimat werden. Die bisherigen Museumsräume, 400qm gegenüber der Süd-Seite des Kölner Domes, nutzen wir bis zur Fertigstellung des Neubaus als Probebühne. So zeigen wir zum Jahrhundertswechse ausgewählte Werke der Sammlung als Versuch »Über die Wirklichkeit.« Anders als in Nabokovs Erzählung sind die derzeitigen Räume im übrigen klein und überschaubar, aber es könnte sein, das sich der darin verborgene unendliche Raum ihrer Erinnerungen und Phantasie dennoch für sie öffnet. Natürlich können Sie uns unter »www.kolumba.de« auch im Internet besuchen, aber vielleicht sind sie doch neugierig geworden, dieses eigensinnige Haus vor Ort in Köln zu betreten. Der Eintritt in das lebende Museum ist jedenfalls frei.

Anmerkungen:
1) Das Museumskonzept ist ab 1995 in der Schriftenreihe »wortwörtlich« ausgeführt worden.
2) In einem Statement auf dem Kolloquium »Kunst im Bau«, Bundeskunst- und Ausstellungshalle, Bonn, 28. Januar 1993.
3) dpa-Meldung zu einer Statistik des Institutes für Museumskunde der Staatlichen Museen in Berlin, FAZ, Feuilleton, 17.12.1999.
4) Hiroshi Sugimoto »Portraits«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. März 2000, S.53; Die Zeit, 9. März 2000.
5) Willibald Sauerländer, »Das Alte immer neu genießen«, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton-Beilage, 6./7. November 1999
6) Walter Riezler, »Museumsreformen«, in: Die Form, Mai 1932, S.137-141.
7) Diesen Hinweis verdanke ich Katharina Winnekes: Albrecht Fabri, »Der schmutzige Daumen«. Gesammelte Schriften, Frankfurt 2000, S.491-495.
8) Zu Herkunft dieses Terminus' vgl. vor allem die Beiträge in der Zeitschrift: »Museum der Gegenwart«, Jg. 1930-1933.
9) Dieser Begriff entstammt ebenfalls einer von deutschen Kunsthistoriken geführten Diskussion, die 1933 durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten abrupt beendet wurde. Vgl. S. Caumann, »The living Museum. Experiences of and Art Historian and Museums Director – Alexander Dorner«, New York 1958 (dt. Ausgabe Hannover 1960)

Veröffentlichung: Plaidoyer pour un musée vivant, in: L’avenir des musées, Actes du colloque organisé au musée du Louvre par le Service culturel, les 23, 24 et 25 mars 2000, Edition de la Réunion des musées nationaux, Paris 2001, S.95-119; Deutsche Fassung, in: das münster, 1/03, S.27–36

© Diözesanmuseum Köln/ Kolumba/ Stefan Kraus 2000
Veröffentlichung – auch auszugsweise – nur mit Quellenangabe
 
www.kolumba.de

KOLUMBA :: Texte :: Lebendes Museum (2000)

Stefan Kraus
Plädoyer für ein lebendes Museum

Vortrag gehalten auf dem vom Musée du Louvre im März 2000 in Paris veranstalteten Kolloquium »Die Zukunft der Museen«

»Die Leute gehen ja nur in das Museum, weil ihnen gesagt worden ist, daß es ein Kulturmensch aufzusuchen hat...«
(Thomas Bernhard, »Alte Meister«, 1985)

»Schon die Vorstellung, Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, ob es sich nun um Museen oder alte Gebäude handelt, ist mir ein Greuel.«
(Vladimir Nabokov, »Der Museumsbesuch«, 1939)

In seiner Erzählung »Der Museumsbesuch« entwirft Vladimir Nabokov (1899-1977) eine abgedrehte Geschichte. Der Ich-Erzähler reist von Paris in ein französisches Provinznest. Im Gepäck trägt er die ihm eher lästige Bitte eines Freundes, im dortigen Museum den Verbleib eines Gemäldes zu erkunden. Eher aus Verlegenheit – um einem herannnahenden Regenguß auszuweichen – findet er sich schließlich auf dessen Eingangsstufen wieder und unmittelbar alle seine Vorurteile gegenüber den Museen bestätigt: »Alles war wie es sein soll: graue Farbtöne, der Schlaf der Substanz, dematerialisierte Materie. Die übliche Vitrine mit alten abgegriffenen Münzen, die im schrägen Samt ihrer Fächer ruhten.« Zwar möchte ich Ihnen das eigene Lesen nicht vorwegnehmen, muß aber – um mein Thema entwickeln zu können – immerhin soviel verraten, das die köstliche Erzählung einen unerwarteten Verlauf nimmt. Zunächst bestätigen sich im Gewohnten die Erwartungen des Erzählers, der selbst den obligaten Museumswärter – »wie üblich ein Veteran mit leerem Ärmel« – als Prototyp der verstaubten Institution wiedererkennen möchte. Doch stufenweise öffnet das scheinbar harmlose Haus seine unermesslichen Resourcen, verwandelt sich der erwartete, vertraute Raum in einen surrealen, unvorstellbaren. Der diese Veränderungen an sich wahrnehmende Erzähler verirrt sich in immer neuen Raumfluchten und ihren sich verschiebenden Realitätsebenen. »Hunde liefen hier über Azurteppiche, und auf einem Tigerfell lagen Bogen und Köcher«, »der schräge Glanz großer Gemälde, die voll waren von Sturmwolken zwischen denen die zarten Idole frommer Kunst in blauen und rosaroten Gewändern schwebten«, oder »kaum drei Zentimeter entfernt, die hohen Räder einer schwitzenden Lokomotive«. Froh, »dem Labyrinth des Museums entronnen zu sein«, findet sich der Autor schließlich an einem zugefrorenen Kanal in seiner russischen Heimat wieder und erwähnt am Ende der Geschichte, daß es ihn »unendliche Geduld und Anstrengung« gekostet habe, wieder ins Ausland - wohl zurück nach Paris - zu gelangen.
Die Erzählung dient mir in mehrfacher Weise als Bild, wobei mir die beschriebene Diskrepanz zwischen dem vom Museum Erwarteten und dem Unerwarteten bemerkenswert erscheint. Als Nabokov im Jahre 1939 seine Geschichte schrieb umgab die Institution Museum eine Friedhofsruhe, die zu stören unerwünscht war. Hugo Borger, der ehemalige Generaldirektor der Kölner Museen, erinnerte sich bei den Anfängen seiner Tätigkeit in den fünfziger Jahren noch daran, daß man froh sein konnte, wenn einmal am Tag die Eingangsglocke läutete (Anm.2). Für ihn und eine ganze Generation von Kunsthistorikern wurde Öffentlichkeit zu schaffen zum vorrangigen Ziel. Das Römisch-Germanische Museum in Köln und das Centre Georges Pompidou seien hier stellvertretend für diese Errungenschaften der siebziger Jahre genannt. Als deren Ergebnis gibt es soviele Museumsbesucher wie nie zuvor. »Es werden immer mehr« titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zuletzt am 17. Dezember des vergangenen Jahres. Spitzenreiter für den Besucherzuwachs waren demnach »mit Abstand die Kunstmuseen« (Anm.3). Von ihnen soll die Rede sein.

Die zeitgemäße Verpackung...
Worüber will man sich beklagen, wenn doch die quantitativen Erfolgskriterien greifen? Die Museen müssen Ereignisse produzieren, um von den Medien wahrgenommen zu werden, um ihre Oeffentlichkeit zu erreichen und um Besucherzahlen nachweisen zu können. Dieser Notwendigkeit gehorchend, haben sie sich eine zeitgemäße Verpackung zugelegt: Museumsarchitekturen mit großen Eingangshallen und spielerischen Fassaden, in denen sich der gestiegene gesellschaftliche Rang der Institution und der Eventcharakter der Ausstellungskonzepte wiederspiegelt und ein mit großem Aufwand betriebenes Marketing, vom Logo bis zum Internet, eine Flut von Prospekten, Plakaten und Anzeigen, die inflationär mit Begriffen wie »Gold« und »Schatz« operieren und ohnehin nur »Meisterwerke« kennen. Doch da sich nicht ständig Superlative produzieren lassen, vor allem, wenn man nicht in der Ersten Liga spielt, muß die Verpackung diesen Mangel ausgleichen. In der zeitgenössischen Kunst dient sie überdies zur Durchsetzung von Marktpositionen, wenn z. B. für die Einzelausstellung eines zeitgenössischen Fotografen vom Deutschen Guggenheim Berlin wiederholt ganze Seiten in überregionalen Zeitungen geschaltet werden (Anm.4). Die Ausstellung wird gesponsert von der Deutschen Bank.
Der »glitzernde Schein« ist trügerisch schrieb Willibald Sauerländer, der ehemalige Direktor des Zentralinstitutes für Kunstgeschichte in München, kürzlich: »Der spektakuläre Erfolg der Spitzenreiter vom Louvre bis zum Getty verdeckt und enthüllt eine Krise. Unter dem unersättlichen Wunsch nach Entertainment und Novitäten läuft das traditionelle Museum Gefahr tödlicher Veränderung« (Anm.5).

..aber konventionelle Absicht
Die Existenz von Museen begründet sich im wesentlichen in drei Aufgaben: sammeln, erforschen und vermitteln. Sammeln und erforschen finden im Hintergrund statt und besitzen aus den kurz erwähnten Gründen abgesehen von wenigen spektakulären Ankäufen kaum mediale Attraktivität. In der Kunstvermittlung konzentriert man sich in der Besucherbetreuung auf die Museumspädagogik, für die es entsprechend ihrer Zielgruppen die verschiedensten Modelle gibt. Demgegenüber folgt die Präsentation der Werke meist einheitlich dem gängigen Schema der chronologischen Abfolge was zu einer langweiligen Austauschbarkeit der Sammlungskonzepte geführt hat. Kunstgeschichte wird – mit welchem Bestand auch immer – mehr oder weniger gut bebildert. In der zeitgenössischen Kunst führt die zunehmende Abhängigkeit der Museen von einflußreichen Sammlern und kooperierenden Galeristen zu einer vergleichbaren Konformität der ausgestellten Künstler, die den Tendenzen des internationalen Marktes entsprechend positioniert werden.
Das Museum vermittelt im einen, wie im anderen Fall Ordnungsprinzipien, die sich als kunsthistorische Erkenntnis verfestigt haben oder dabei sind, es zu tun. Das Einzelwerk wird in einen vorgedachten Zusammenhang eingebunden, den es mit Objektbeschriftungen, auf ausführlichen Schrifttafeln und unterstüzt mit immer neuen technischen Hilfsmitteln - vom Diakasten der 70er, zum interaktiven Flachbildschirm der 90er Jahre - zu vermitteln gilt. Das Museum erklärt die Kunst und möchte belehren, überzeugt vom rationalen Anspruch einer sprachlichen Ausdeutung seiner Werke und einer den Naturwissenschaften entliehenen Nachprüfbarkeit seiner Ergebnisse. So legt der ICOM-Kodex unserer Berufsethik fest, »daß die bei Dauer- und Sonderausstellungen vermittelten Informationen ehrlich und objektiv sind, den Tatsachen entsprechen und daß weder Mythen noch Stereotype verstetigt werden.«
Aus diesen unterschiedlichen Vorgaben ergibt sich für viele Museen ein fatales Mißverhältnis. Auf der einen Seite die Konzentration auf attraktive Wechselausstellungen, die, indem sie lange Planungszeiten voraussetzen, kurzfristige Veränderungen und damit Aktualität ausschließen, auf der anderen Seite eine in schematischer Ordnung auf Dauer erstarrte Schausammlung, deren Präsentationsästhetik mangels personeller und finanzieller Mittel oft um Jahrzehnte zurückbleibt. Schon in den Zwanziger Jahren erkannte man, daß die Leblosigkeit der einmal gefundenen Ordnung die Existenz des Museums grundsätzlich in Frage stellen wird. Walter Riezler, Museumsdirektor und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, sah bereits 1932 darin die »Schicksalsfrage« des Museums überhaupt: »Nur wenn es gelingt, den Verlust an lebendiger ‚Wirklichkeit' (das Wort in seinem stärksten und ursprünglichsten Sinne genommen), den jedes Kunstwerk erleidet, wenn es aus seinem natürlichen Zusammenhange in das Museum überführt wird, durch eine neue ‚Wirklichkeit' wettzumachen, ist das Museum etwas anderes als eine ‚Leichenkammer der Kunst'... Die große Sorgfalt und Feinfühligkeit, die erforderlich ist, einen Museumsraum wirklich mustergültig anzuordnen, so daß jedes einzelne Stück zur lebendigsten Wirkung gebracht wird... darf nun aber nicht dazu verführen, daß die einmal gelungene Ordnung für Jahre als unantastbar angesehen wird.... Man könnte sich als – so wohl nie zu verwirklichenden – Idealfall denken, daß im Laufe der Jahre die ganzen Bestände eines Museums... nach immer neuen Gesichtspunkten in wechselnder Anordnung ausgestellt werden« (Anm.6).
Auch in der Wiederaufbauphase der Museen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden derartige Konzepte weiterverfolgt. So findet man in den gerade publizierten Texten des Schriftstellers und Künstlerfreundes Albrecht Fabri den »Entwurf eines möglichen neuen Museums« aus dem Jahre 1953: »Können Sie sich ein Museum vorstellen«, fragt Fabri, »dessen Inventar in dauernder Bewegung ist« (...). Fabri stellte den Sinn einer chronologischen Ausstellung in Frage und verlangte nach einer völlig neuen Präsentationkultur: »Jedes Werk setzt vielmehr neu an; und das Frühe ist in seiner Arbeit nicht weniger vollständig als das Späte. Darin steckt aber, daß es so etwas wie eine Geschichte der Kunst garnicht gibt, zumindest nicht im Sinne eines einfachen Ablaufs. (...) Indem es (das Museum) chronologisch, nach Jahreszahlen ordnete, entwarf es ein lineares, und das heißt notwendigerweise: flaches Bild von Geschichte. Es stellte die Vergangenheit nur als vergangen, nicht als fortwirkend dar. Es unterschlug vor allem die Simultanität, die zwischen Werken der verschiedensten Jahrhunderte regiert. (...) Im Sinn seiner ästhetischen Aktualität ist auch ein Werk des vierten vorchristlichen Jahrhunderts von heute; und im Sinn eben dieser Aktualität muß ein Museum, wenn es nicht zur Rumpelkammer werden soll, das betreffende Werk vorstellen« (Anm.7).

Die Zukunft der Museen...
Die Zukunft der Museen ist abhängig von der gesellschaftlichen Anerkennung von Kunst. Doch weder die retrospektive Ausrichtung der meisten Museen, die seit den siebziger Jahren nur zugenommen hat, noch die populistische Anbiederung an erfolgreichere Modelle des Enter- und Infotainment sind dazu geeignet künstlerisches Tun als Experiment und als grenzüberschreitendes Wagnis zu vermitteln. Es stellt sich die Frage, warum die unvergleichlich gestiegene Zahl der Museumsbesuche nicht zu größerer Akzeptanz und Toleranz gegenüber dem zeitgenössischen Kunstschaffen geführt hat, warum wir Kunstvermittler im Gegenteil bei Führungen und Gesprächen noch immer den gleichen Vorurteilen begegnen, wie zu Beginn der Moderne (»Das kann mein Kind auch!«). Der Bildungsauftrag des Museums erfüllt sich nur, wenn Kunst nicht retrospektiv als gesicherter Wert innerhalb etablierter Ordnungen vermittelt wird, sondern als eine jede Ordnung sprengende Kraft, als – Schiller sei Dank – einzige Erscheinung von Freiheit. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Kunst dient dem Verständnis der Gegenwart.
Kunstvermittlung könnte sich die zunehmende Bedeutung der visuellen Wahrnehmung zu eigen machen indem sie die individuelle Erfahrung des Werkes als dessen Sinn und eigentliche Bedeutung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. Sie muß die Qualität des »sensiblen bildenden Sehens« (Sauerländer) bewußt machen und in der Auseinandersetzung mit Originalen so selbstverständlich wie unmittelbar sein.
Die Zukunft der Museen liegt nicht in deren Größe, denn was nutzen alle Neu- und Erweiterungsbauten, wenn Geld, Personal und Ideen fehlen, sie attraktiv zu bespielen. Museen sollten statt immer größer, immer besser werden wollen. Dies erfordert neben der Existenzsicherung der Künstler durch die Bereitstellung finanzierbarer Produktionsbedingungen, die Vision, die Selbstständigkeit und auch die Unabhängigkeit der Kuratoren. Die Zukunft der Museen liegt in ihrer »Gegenwart«, in der authentischen Auseinandersetzung mit der materiellen Präsenz von Kunstwerken (Anm.8). Sie zu nutzen erfordert individuelle Konzepte und die ausdrückliche Betonung jeweils individueller Sammlungstrukturen. Anknüpfend an die Erzählung von Vladimir Nabokov, liegt die Zukunft der Museen gerade auch in ihrer gescholtenen Provinzialität, in der Eigen- und Einzigartigkeit der Sammlungen und im unerwarteten Aufeinandertreffen unterschiedlicher ästhetischer Kategorien. Nabokov schildert das traumatische Erlebnis in einem Museum als Wunderkammer. Sein Besucher verläßt das Museum verwandelt. Doch wo ist bei allem Willen zur aufklärenden Bildung in unseren Museen das Wundern geblieben? Wo wird der Neugierde Rechnung getragen, dem nicht zu vermittelnden Rest, der das Wesentliche der Kunst ausmacht, der Lust am eigenen Entdecken und vor allem der Fähigkeit zur visuellen Erkenntnis?
Die Zukunft der Museen erfordert statt statischer Ordnung das »lebende« Museum (Anm.9). Das lebende Museum bezieht seine Legitimation als idealer Ort für die Auseinandersetzung mit Kunst aus einer permanenten Infragestellung seiner Gegenstände (den Werken) und seiner Verfahrensweisen (deren Erforschung und Präsentation). Kunstvermittlung bedeuted darin das Aktivieren der bewahrten Werke und ihrer Gehalte innerhalb eines sich stets erneuernden zeitgenössischen Kontextes, der allein durch die wechselnde Präsentation der Werke untereinander hergestellt wird. Sie muß eine von den Werken ausgehende und daher unverwechselbare Qualität erlangen. Das lebende Museum wird das Phanömen Kunst als einen Prozess begreifbar machen, für den nicht Fortschritt sondern Kontinuität maßgeblich ist, es wird den Ereignischarakter der spektakulären Wechselausstellung einlösen gegen das Angebot zur kontinuierlichen Teilnahme.
Es wird nicht retrospektiv ausgerichtet sein, sondern das künstlerische Experiment aktiv begleiten und von Zeit zu Zeit auch ermöglichen. Das lebende Museum ist als präzise zu bespielendes Instrument ein kleines Haus mit einer qualitätvollen größeren Sammlung, die – wie in einem Garten - immer nur ausschnittweise erblüht. Seine Sammlung ist das wertvolle Material eines ästhetischen Labors in dem Zusammenhänge erforscht werden, die jenseits der Chronologie eher im Anthropologischen anzunehmen sind. Zusammenhänge, die intuitiv erfahren werden und deren assoziative Qualität das kunsthistorische Wissen um diese Werke bereichert. Das lebende Museum versteht sich deshalb nicht als Ergebnis der Kunstwissenschaft, vielmehr möchte es Vergangenheit als (wieder) erlebte Gegenwart bereithalten und seine Erfahrungen im Umgang mit Originalen befruchtend in die kunstwissenschaftliche Diskussion einbringen. Stichworte dieser Diskussion sind u.a. Intuition, Subjektivität, Leidenschaft und Erinnerung, die als eigene Kriterien diskutiert werden müssen.

...und die der Individualität
Ich träume von einem Museum, das einen nicht mit einem Shop empfängt, nicht mit Stifterlisten und auch nicht mit belehrenden Schrifttafeln über Sinn und Zweck, sondern unmittelbar mit Kunstwerken, über die ich mich wundern darf. Ich träume von einem Museum, dessen bauliche Atmosphäre die Bereitschaft fördert, sich länger darin aufzuhalten und neugierig auf Unbekanntes einzulassen; von einem Museum, das allein mit der Art der Präsentation seiner Werke etwas von der Hingabe, Überlegung und Ausdauer vermittelt, mit der Kunst entsteht, auch von der Isolation des Künstlers, die am besten in der Isolation des Betrachtens erfahren werden kann und nicht in geführten Rundgängen, die Fragen beantworten, bevor sie gestellt werden. Ich träume von einem Museum das nicht nur Meisterwerke kennt, sondern auch die Wege und Umwege, die dorthin führen; von einem Museum, das sich redlich bemüht, die Bedeutung von Kunst nicht einengend oder vereinfachend darzustellen, vielmehr ihre Ambivalenz, ihre Mehrdeutigkeit bewußt machen möchte; von einem Museum das die sinnstiftende Autonomie der Kunst erhält, indem es Kunst nur mit Kunst erklärt und mit ihr an Grundfragen der menschlichen Existenz heranführt.
Ich träume von einem Museum, daß nicht in regional und international, in bekannte und unbekannte Künstler unterscheidet, sondern allein die Intensität zum Maßstab seiner Ausstellungen macht; von einem Museum, daß Literatur und Musik nicht als Garnitur zur Eröffnung betrachtet, sondern darin mögliche Parallelen erlebbar macht. Ich träume von einem Museum, das – wie in Nabokovs Erzählung – die historische Zeit aufhebt und den Besucher eintauchen läßt in die Gegenwart seiner Erinnerungen, etwa die seiner Kindheit, deren Recherche Kunst häufig zum Ausgangspunkt hat. Ich träume von einem Museum, daß seinen Besucher nicht mit Kopfhörer-Führungen entmündigt, sondern in vorbehaltloser Gesprächsbereitsschaft vor allem nach seinen Eindrücken fragt, ihn eigene Fragen entwickeln läßt und eigene Erfahrungen mit auf den Weg gibt; von einem Museum, dessen Ausstellungen nicht das vorgedachte Konzept vermitteln wollen, sondern Zwischenräume öffnen, für die hinzukommenden Ideen der Besucher. Dieses Museum wäre – um einen Beuys'schen Terminus einzuflechten – eine »Soziale Plastik«, in der jeder Besucher seine ihm eigene Kreativität als Fähigkeit zur Wahrnehmung, zur Kommunikation und zur Übernahme von Verantwortung erleben würde. Es stellt die Frage nach der Freiheit des Individuums im Schnittpunkt von Glaube und Wissen und tritt für existenzielle Grundwerte ein, indem es sie infrage stellt.

Kolumba
Meine Damen und Herren - Der Traum nährt sich bekanntermaßen aus der Realität, deren Alltag auch in Köln alle in diesem Kolloquium behandelten Konflikte, Beschränkungen und Widersprüche unserer Institution bereithält. Doch das Museum von dem wir träumen, ist seiner Realisierung in den vergangenen zehn Jahren schrittweise näher gekommen. Es trägt den Namen »Kolumba« und entsteht als Fortführung des schon 1853 gegründeten Kölner Diözesanmuseums in der finanziellen und vor allem auch ideellen Trägerschaft des Erzbistums Köln. Unser Träger identifiziert sich mit einer Arbeit, die an die verloren gegangene kulturtragende Traditon der Kirche anknüpfen möchte. Einzigartiger Bauplatz ist das Ruinengelände von St. Kolumba, einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten spätgotischen Kirche in der Kölner Innenstadt, deren Reste es vollständig integriert. Seit 1991 haben wir das Konzept für dieses Museum entwickelt und in wechselnden Konstellationen vielfältigst erprobt. Ich habe ihnen kommentarlos einige Bildbeispiele unserer bisherigen Ausstellungs-Situationen vorgestellt, die sich aufgrund ihrer Gegenüberstellungen, bzw. raumgreifenden Bezüge nur schwer abbilden lassen. Hervorheben möchte ich, dass alle diese Ausstellungen aus Werken der eigenen Sammlung zusammengestellt werden. Es ist also immer ein anderes Museum, das der Besucher vorfindet, wobei er sich darauf verlassen kann, einige wenige Werke stets an ihrem Ort zu sehen.
Als Richard Serra am 24. Februar 1997 seine Stahlskulptur »The Drowned and the Saved« in der ehemaligen Sakristei der Kolumbakirche aufstellte, war dies die idelle Grundsteinlegung für das zukünftige Haus, denn diese Situation wird unverändert im Neubau erhalten bleiben: Unter freiem Himmel befindet man sich in der Innenstadt von Köln in einem gotischen Raum, den eine gleichgroße Gruft unterkellert, die angehäuft ist mit den zusammengetragenen Gebeinen aus Bestattungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Die beiden sich gegenseitig stützenden Stahlwinkel der Skulptur verklammern den ehemals zweijochigen Raum und überführen in künstlerischer Interpretation das ruinöse Fragment zu neuer Ganzheit.
»Kolumba« ist der vom Schweizer Architekten Peter Zumthor entworfene Neubau, der im Juni 1997 aus einem Architekturwettberb als erster Preisträger hervorging. Mit ihm befinden wir uns nach gemeinsamem Diskurs am Ende der Raumplanung und kurz vor Beginn der Bauarbeiten, die etwa 2003 abgeschlossen sein sollen. Kolumba wird als geschichtlicher Ort eine Verdichtung dieses Konzeptes erbringen, und den Werken unserer Sammlung Heimat werden. Die bisherigen Museumsräume, 400qm gegenüber der Süd-Seite des Kölner Domes, nutzen wir bis zur Fertigstellung des Neubaus als Probebühne. So zeigen wir zum Jahrhundertswechse ausgewählte Werke der Sammlung als Versuch »Über die Wirklichkeit.« Anders als in Nabokovs Erzählung sind die derzeitigen Räume im übrigen klein und überschaubar, aber es könnte sein, das sich der darin verborgene unendliche Raum ihrer Erinnerungen und Phantasie dennoch für sie öffnet. Natürlich können Sie uns unter »www.kolumba.de« auch im Internet besuchen, aber vielleicht sind sie doch neugierig geworden, dieses eigensinnige Haus vor Ort in Köln zu betreten. Der Eintritt in das lebende Museum ist jedenfalls frei.

Anmerkungen:
1) Das Museumskonzept ist ab 1995 in der Schriftenreihe »wortwörtlich« ausgeführt worden.
2) In einem Statement auf dem Kolloquium »Kunst im Bau«, Bundeskunst- und Ausstellungshalle, Bonn, 28. Januar 1993.
3) dpa-Meldung zu einer Statistik des Institutes für Museumskunde der Staatlichen Museen in Berlin, FAZ, Feuilleton, 17.12.1999.
4) Hiroshi Sugimoto »Portraits«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. März 2000, S.53; Die Zeit, 9. März 2000.
5) Willibald Sauerländer, »Das Alte immer neu genießen«, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton-Beilage, 6./7. November 1999
6) Walter Riezler, »Museumsreformen«, in: Die Form, Mai 1932, S.137-141.
7) Diesen Hinweis verdanke ich Katharina Winnekes: Albrecht Fabri, »Der schmutzige Daumen«. Gesammelte Schriften, Frankfurt 2000, S.491-495.
8) Zu Herkunft dieses Terminus' vgl. vor allem die Beiträge in der Zeitschrift: »Museum der Gegenwart«, Jg. 1930-1933.
9) Dieser Begriff entstammt ebenfalls einer von deutschen Kunsthistoriken geführten Diskussion, die 1933 durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten abrupt beendet wurde. Vgl. S. Caumann, »The living Museum. Experiences of and Art Historian and Museums Director – Alexander Dorner«, New York 1958 (dt. Ausgabe Hannover 1960)

Veröffentlichung: Plaidoyer pour un musée vivant, in: L’avenir des musées, Actes du colloque organisé au musée du Louvre par le Service culturel, les 23, 24 et 25 mars 2000, Edition de la Réunion des musées nationaux, Paris 2001, S.95-119; Deutsche Fassung, in: das münster, 1/03, S.27–36

© Diözesanmuseum Köln/ Kolumba/ Stefan Kraus 2000
Veröffentlichung – auch auszugsweise – nur mit Quellenangabe